Wahrnehmungen des Menschen

Wahrnehmungen des Menschen
Wahrnehmungen des Menschen
 
Wahrnehmungen leiten uns durch das Leben. Die meisten Menschen haben zum Glück nicht viel Mühe damit. Sie sind mit ihrer Umwelt durch die Sinnesorgane innig verbunden. Sie finden ihren Weg, weichen Hindernissen aus, und erkennen ohne große Anstrengungen, was für sie im täglichen Leben wichtig ist. So liegt die Vorstellung nahe, das Wahrnehmen sei, weil es so leicht gelingt, selbst ein einfacher Vorgang. Das aber ist ein Irrtum, dem man auch bei einem Computer aufsitzen kann.
 
Gleich nach dem Tastendruck erscheint der aufgerufene Buchstabe auf dem Bildschirm. Es entsteht der Eindruck, als ob nicht mehr, sondern weniger geschähe als in einer altmodischen mechanischen Schreibmaschine. Bei ihr ist noch der ganze komplizierte Ablauf sichtbar, um einen Buchstaben zu erzeugen. Doch funktioniert der Computer nur scheinbar einfach. In seinem Inneren laufen viele programmierte Verarbeitungsschritte mit großer Geschwindigkeit ab, die wir nur nicht mitbekommen
 
Auch von den physiologischen Vorgängen in den Sinnesorganen und im Gehirn bekommen wir nur wenig mit. Die meisten Wahrnehmungen stellen sich mühelos ein. Es gibt allerdings auch schwierige Fälle, in denen wir uns unserer Wahrnehmungen nicht sicher sind. Wenn man nicht wüsste, dass viele neuronale Verarbeitungsschritte notwendig sind, damit aus der ersten Wirkung eines Sinnesreizes eine Wahrnehmung wird, könnte man die Wahrnehmungsvorgänge für einfach halten. Die Versuchung ist groß, die Probleme des Wahrnehmens als rein philosophische Probleme aufzufassen, und ihnen allein durch gedankliche Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungserlebnissen nachzugehen.
 
Die Aufgabe, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten, zu speichern und weiterzugeben, haben Sinnesorgane und Gehirn mit dem Computer gemeinsam. Trotzdem gibt es einen wichtigen Unterschied. Der Computer ist das Produkt einer technischen Entwicklung zur Lösung bestimmter Aufgaben, die in der Gebrauchsanweisung beschrieben sind. Die Aufgaben der Sinnesorgane wurden dagegen nicht von Menschen festgelegt. Es gibt für sie auch keine natürliche Gebrauchsanweisung. Das Wissen über den natürlichen Zweck der Sinnesorgane und des Gehirns ist das Ergebnis der Forschung. Wer nicht weiß, welcher Aufgabe ein Organ dient, kann kaum fragen, wie es funktioniert. Der Schnecke des Innenohrs kann niemand ansehen, dass sie dem Hören dient, ebenso wenig den Bogengängen, welche die Drehbeschleunigungen, und den Statolithenorganen, die die Schwerkraft registrieren. Viele Forscher haben sich darum bemüht, den funktionalen Zweck und die Arbeitsweise der Sinnesorgane zu erforschen. Die Forschung dazu ist nicht abgeschlossen. Solange Zweck und Funktion eines Organs nicht ganz genau bekannt sind, ist eine endgültige Beurteilung seiner Leistungsfähigkeit nicht möglich.
 
 Die scheinbare Unzulänglichkeit menschlicher Sinnesorgane
 
Berühmt wurde eine Äußerung von Hermann von Helmholtz über das menschliche Auge. Er schrieb, er würde einem Optiker, der ein Instrument mit so schlimmen Abbildungsfehlern liefere, wie man sie im Auge des Menschen findet, dies »mit Protest« zurückgeben. Oft wird das so zitiert, als habe von Helmholtz geschrieben, das Auge sei schlecht konstruiert. In Wirklichkeit machte von Helmholtz mit dem viel zitierten Satz einen Scherz, um den folgenden Sachverhalt deutlich herauszuarbeiten.
 
Beim Vergleich mit einem optischen Gerät, zum Beispiel einer Kamera, kommt das menschliche Auge in der Tat nicht gut weg. Der Netzhaut entspricht in der Kamera der Film. Vor dem Film würden wir beim Fotoapparat keine Blutgefäße dulden. Sie würden ja auf dem Film mit abgebildet werden. Auch ein blinder Fleck auf dem Film wäre inakzeptabel. Wir sehen nur scharf, was im Bereich der Sehgrube (Fovea centralis) abgebildet wird, wo die Sinneszellen viel dichter stehen als in den Außenbereichen der Netzhaut. Wenn die Feinheit des Korns und damit die Bildschärfe beim Film nur innerhalb eines kleinen Flecks in der Mitte gut wäre, das heißt, dort, wo sich im Auge die Sehgrube befindet, würde die technische Leistung der Kamera schlecht beurteilt. Dazu kommt noch die chromatische und sphärische Aberration in der Augenoptik. Es ist außerdem erstaunlich, dass die Sinneszellen in der Netzhaut die hinterste Schicht bilden. Das Licht muss deshalb mehrere Schichten von Nervenzellen durchdringen, bis es endlich zu den lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut gelangt. Es ist nicht zu leugnen: Im Vergleich zur Kamera schneidet das Auge schlecht ab.
 
Die Vorstellung aber, das Auge sei für seine Aufgabe nicht optimal gebaut, beruht auf einer falschen Vorstellung seiner Aufgabe. Das Auge ist keine Kamera! Es funktioniert auch ganz anders. Einen Fotoapparat muss man still halten, damit das Bild nicht verwackelt. Die Augen sind dagegen ständig in Bewegung. Das Bild wird wegen dieser unwillkürlichen Augenbewegungen immerzu auf der Netzhaut herumgeschoben. Die unwillkürlichen Augenbewegungen stören jedoch nicht. Sie sind vielmehr für die natürliche Funktion des Sehens notwendig, da man ohne die Bildverschiebungen im Auge überhaupt nichts sehen kann. Die Schatten der Blutgefäße bleiben unsichtbar, weil sie sich auf dem Augenhintergrund nicht bewegen. Die Schatten fallen immer auf dieselbe Stelle, auch wenn sich das Auge bewegt, weil das Licht durch die Pupille und somit immer aus derselben Richtung kommt. Wenn man aber die Gefäßschatten auf dem Augenhintergrund mit einem experimentellen Trick zum Zittern bringt, sieht man sie plötzlich.
 
Die Abbildung der Außenwelt im Auge kann man in ein unbewegtes stabilisiertes Netzhautbild verwandeln. Dazu muss man die Bewegungen des Auges registrieren und das über bewegliche Spiegel projizierte Bild so mitbewegen, dass die Abbildung im Auge immer an derselben Stelle bleibt. Das stabilisierte Bild wird nur beim Einschalten kurz gesehen und zerfällt innerhalb weniger Sekunden, bis schließlich nur noch ein lichter Nebel in der Wahrnehmung übrig bleibt. Die Augenbewegung und Bildverschiebungen im Auge sind für das Sehen offensichtlich notwendig. Daher lässt sich das Auge besser mit einer tastenden Hand als mit dem Fotoapparat vergleichen. Wir halten die Augen nicht ruhig, sondern tasten mit ihnen die Umgebung ab. Der blinde Fleck und die Blutgefäße stören uns deshalb beim Sehen so wenig wie die Lücken zwischen den Fingern beim Tasten.
 
Wenn die Sehschärfe überall so gut wäre wie in der Sehgrube, benötigten wir viel mehr Sinnes- und Nervenzellen. Für die meisten Aufgaben des Sehens ist die große Sehschärfe aber gar nicht notwendig. Weil die Augen beweglich sind, können sie bei Bedarf schnell in die richtige Richtung gedreht werden. Die hochauflösende Sehgrube kann so nacheinander zur Betrachtung verschiedener Gegenstände genutzt werden. Mit dieser Methode werden die vielen Sinnes- und Nervenzellen gespart, die notwendig wären, wenn die Sehschärfe in der ganzen Netzhaut so groß wäre wie in der Sehgrube. Das Bild im Auge können wir nicht sehen. Wir nehmen stattdessen das Ergebnis der neuronalen Verarbeitung der Bildinformation im Gehirn wahr. Das Bild im Auge ist nur ein physikalisches Zwischenprodukt aus der Folge der Wahrnehmungsvorgänge. Auch darin unterscheidet sich das Auge von der Kamera, bei der die Abbildung gleich das Endprodukt liefert, das Foto.
 
Mit der Qualitätsbeurteilung, die bei technischen Geräten üblich und möglich ist, sollte man bei natürlichen Organen vorsichtig sein. Die Leistungsfähigkeit lässt sich nur daran messen, wie gut ein Gerät seiner Aufgabe gerecht wird. Dazu muss jedoch die Aufgabe bekannt sein. Bei genauerer Kenntnis von Aufgabe und Arbeitsweise der Augen erscheinen die Blutgefäße im Auge, der blinde Fleck und die unwillkürlichen Augenbewegungen nicht mehr wie Konstruktionsfehler, und die Beschränkung des guten Auflösungsvermögens auf die Sehgrube entpuppt sich sogar als Vorteil. Selbst die erwähnten optischen Abbildungsfehler des menschlichen Auges haben wahrscheinlich eine Funktion bei der Akkommodation.
 
Spätestens seit dem Erscheinen des Buches von Charles Darwin »Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« wissen die Forscher, dass unsere Sinnesorgane und ihre Verwendung eine Vorgeschichte in der Evolution der Organismen haben. Wir haben nur das derzeitige Entwicklungsstadium vor uns. Die Bedingungen, unter denen sich die Wahrnehmungsorgane entwickelt haben, ihre jeweiligen Aufgaben sowie die Selektionsvor- und -nachteile bei unseren Vorfahren kennen wir nur lückenhaft. Darum ist es nicht mit abschließender Sicherheit möglich, die Sinnesorgane zu verstehen.
 
 Wahrnehmungstheorien
 
Wissenschaft ist nie frei von Vorurteilen; in jede wissenschaftliche Aussage gehen Unterstellungen und Vorurteile ein. Das Bemühen, die Voraussetzungen einer Aussage zu formulieren, führt zur Theorie. Die Forscher sind selten auf eine Theorie festgelegt, neigen aber meistens mehr oder weniger bewusst einer Grundvorstellung zu. Zur Wahrnehmung, zu den Sinnesorganen und dem Gehirn gibt es unübersehbar viele theoretische Konzepte, von denen in diesem Abschnitt einige Grundgedanken zusammengefasst werden. Wichtig für die Einteilung und Abgrenzung ist hier weniger der Inhalt als die Absicht, mit der diese Theorien formuliert wurden. Vermittelt werden soll vor allem die Einsicht, dass man in der Wahrnehmungsforschung nicht mit nur einem Denkmodell auskommt.
 
Philosophische Wahrnehmungstheorie
 
Ein Hauptproblem für die meisten Menschen ist das Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit. Wie verhält sich das, was man wahrnimmt, zur Wirklichkeit oder zu dem, was man darüber weiß oder denkt? Viele Philosophen haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Zunächst ging es um die Kritik an der auch heute verbreiteten Ansicht, nach der unsere Wahrnehmungen zuverlässige Abbildungen der Außenwelt seien oder gar die alleinige Quelle unseres Wissens. »Wenn ich es doch mit eigenen Augen gesehen habe. ..«, ist eine gerne benutzte Formulierung, obwohl jeder Mensch weiß, wie leicht er sich bei einer Wahrnehmung irren kann.
 
Gegen die naive Vorstellung, die eigenen Wahrnehmungen lieferten sicheres Wissen, wenden sich bereits die frühesten abendländischen Texte der Philosophie, wie die Schriften von Platon, vor allem der Dialog Theaitetos. Sokrates, dem in diesem Text die Rolle des Gesprächsführers zufällt, hat nur Spott übrig für die Vorstellung, nach der eine einfache Verbindung von den Gegenständen über die Sinnesorgane zum Wahrgenommenen und von dort zum Wissen bestünde, als ob in dieser Reihenfolge eines aus dem anderen hervorginge. Ein Gegenstand, der die Sinnesorgane reizt, erzeugt eine Wahrnehmung. Aber erzeugt er bei allen Menschen dieselbe? Wird Schwarz und Weiß von allen Menschen gleich empfunden? Ist auszuschließen, dass jeder Mensch etwas anderes wahrnimmt? Ist nicht ein Luftzug für den einen angenehm kühlend, obwohl er dem anderen so kalt erscheint, dass er friert? Schmeckt nicht der gleiche Wein dem Gesunden gut und süß und erscheint dem Kranken unangenehm und bitter? Ist die Behauptung, Honig sei süß, nicht besser zu ersetzen durch die Aussage, er schmecke süß?
 
Kann man wirklich sagen, unser Wissen über die Welt gründe auf Wahrnehmungen? Besteht nicht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Wahrnehmung und Wissen? Zwei bekannte Gesichter kann man bei größerer Entfernung leicht verwechseln, kaum aber die beiden Personen, wenn man sie gut kennt und an sie denkt. Man kann nie ganz sicher sein, ob man elf oder zwölf Gegenstände wahrgenommen hat. Die Zahlen Elf und Zwölf wird man aber denkend kaum jemals verwechseln. Wie lässt sich schließlich der Wahrheitsgehalt von Erinnerungen und Traumbildern beurteilen?
 
Aufgrund solcher Überlegungen und in Übereinstimmung mit anderen Bereichen seiner Philosophie kam Platon zu dem Schluss, dass die Sinne allein nicht wahrheitsfähig seien. Was man wahrnimmt, ist den zufälligen Wahrnehmungsbedingungen unterworfen. Erst durch das Wissen, so folgert er, kann das Wahrnehmbare aus den zeitgebundenen Zufälligkeiten des Wahrnehmens herausgehoben werden. Das für alle Menschen verbindliche, sichere und, wie er dachte, zeitlos gültige Wissen, wie es von der Geometrie bekannt war, setzt nach Platon eine Teilhabe an den Ideen voraus, ohne die zeitlos Wahres und für alle Menschen Gültiges nicht gedacht werde könne. Diese Ideenlehre ist Teil seiner Metaphysik.
 
Platon ging es bei seinen Überlegungen nicht allein um die Erklärung von Wahrnehmung, sondern darüber hinaus auch um die grundsätzliche Frage, ob es sicheres Wissen und bleibend Wahres überhaupt gibt, und wie man dazu kommt. Seine Gedanken zur Wahrnehmung gehören in diesen weiter reichenden Bereich des philosophischen Fragens. Damit ist er in der gegenwärtigen Diskussion noch immer wirksam. Führen uns die Sinne die Welt so vor, wie sie wirklich ist (Standpunkt des Realisten), oder entwickelt jeder Mensch seine eigenen Vorstellungen (Standpunkt des Solipsisten)? Ist man besser aufgehoben bei einer Philosophie, die sich auf eine Spielart der Ideenlehre und damit auf die Metaphysik stützt, oder sollte man an ihre Stelle eine evolutionäre Erkenntnistheorie setzen? Das Verlässliche in Wahrnehmung und Wissen ist nach dem letztgenannten Denkansatz das Bewährte, das in den langen Zeiten der Evolution ausgebildete Produkt von Denk- und Wahrnehmungsweisen, die an die jeweiligen Aufgaben angepasst worden sind. Manchmal wird dieser Prozess als evolutionäres Lernen bezeichnet im Gegensatz zu dem Lernen, das uns in der eigenen Lebenszeit bereichert.
 
Diese Fragen sind von grundsätzlichem Interesse dafür, was die Menschen über sich selbst denken. Darum werden sie auch von Wahrnehmungsforschern diskutiert. Allerdings ist es zweifelhaft, ob die Naturwissenschaften eine dieser philophischen Fragen jemals beantworten können. Über richtig und falsch wird in den Naturwissenschaften heute nicht nach den philosophischen Ansichten oder Überzeugungen der Forscher geurteilt. Dennoch äußern sich die Neurobiologen gerne zu den skizzierten Fragen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Problem und dem Bewusstsein. Die Gültigkeit der Forschungsergebnisse ist davon ganz unabhängig.
 
Das psychophysische Problem
 
In den letzten drei Jahrhunderten kreisten die Gedanken vieler Wissenschaftler um das psychophysische oder Leib-Seele-Problem. Der Berliner Physiologe Emil du Bois-Reymond, der Bahnbrechendes zur Erforschung der elektrischen Natur der Nervenerregung geleistet hat, ist auch durch seine philosophischen Schriften berühmt geworden, in denen er das psychophysische Problem mit großer Deutlichkeit formulierte. Das Problem stellt sich dem Forscher, der sich mit den Sinnesorganen und dem Gehirn beschäftigt, um zu verstehen, wie wir durch diese Organe zum Wahrnehmen, Denken und zur erlebten eigenen Befindlichkeit gelangen. Eine gewisse Enttäuschung sei, so lehrt du Bois-Reymond, dann unvermeidlich. Denn was mit den Methoden der Naturwissenschaft zu finden sei, sei Struktur und chemische Zusammensetzung der Organe sowie physiologische Abläufe. Niemals aber werde man durch das Mikroskop oder mit einem Messgerät eine seelische Regung im Nervensystem nachweisen. Wenn man wissen wolle, welche Gedanken, Wahrnehmungen oder Gemütserlebnisse das Gehirn hervorbringe, müsse man den Menschen selbst fragen. Nicht einmal die einfachste Wahrnehmung wie zum Beispiel »rot« oder »sauer« sei mit den Methoden der naturwissenschaftlichen Hirnforschung zu finden.
 
Zweifelsohne ist hiermit eine Schwierigkeit, eben das Leib-Seele-Problem, zutreffend beschrieben. Die meisten Forscher folgen aber du Bois-Reymond nicht mehr mit der weiter gehenden Behauptung, dass sich der Zusammenhang zwischen Leib und Seele niemals werde aufklären lassen. Mehr oder weniger deutlich neigen sie der Vorstellung zu, dass sich die psychischen und physischen Bereiche in der Neurobiologie mit dem wissenschaftlichen Fortschritt einander annähern werden, dass sich also der psychophysische Graben von alleine schließen werde. Dieses Konzept heißt Identitätstheorie. Der Name deutet an, dass Leib und Seele, obwohl sie scheinbar verschieden sind, letztlich doch von gleicher Art seien. Die Schwierigkeiten werden auf den unzureichenden Kenntnisstand zurückgeführt. Mit dem Fortschritt der Hirnforschung und der Psychologie soll, so wird vorhergesagt, das Problem langsam verschwinden.
 
Gegenwärtig existiert das psychophysische Problem aber noch in der Praxis der Psychologie, der kognitiven Neurobiologie oder Psychobiologie, der Psychophysik und der Psychiatrie, das heißt in allen Disziplinen, in denen psychophysische Zusammenhänge untersucht werden. Das große Interesse an diesen Wissenschaften beruht gerade auf der Faszination, die noch immer von dem psychophysischen Problem ausgeht. Das letzte große Werk zu diesem Thema wurde gemeinsam von dem Philosophen Karl Popper und dem Hirnforscher John Eccles geschrieben. Es überragt spätere Texte nicht nur durch die Fülle des gebotenen Materials, sondern auch wegen der neuartigen Aufgliederung des Problems. Popper und Eccles unterscheiden Welt 1 (der Bereich des Physischen und Messbaren), Welt 2 (der Bereich der Empfindungen und Emotionen) und Welt 3 (die Welt des Wissens und der Argumente). Sie zeigen, wie man widerspruchsfrei über die Wechselwirkungen zwischen den Bereichen diskutieren kann. Beide machen, wie schon du Bois-Reymond, kein Geheimnis aus ihren philosophischen Überzeugungen, die bei diesen drei außerordentlich kenntnisreichen Gelehrten übrigens weit auseinander liegen. Interessant sind ihre Überlegungen aber nicht wegen der philosophischen Standpunkte, sondern weil sie Klarheit im Umgang mit dem psychophysischen Problem liefern.
 
Das psychophysische Problem findet noch immer Interesse. Das zeigt sich in den ausführlichen Bekenntnissen zum Monismus in den Schriften vieler Neurobiologen. Damit ist die philosophische Mehrheitsposition gemeint, nach der Leib und Seele ihrer Natur nach letztlich von einer Art sind. Die Gegenposition, der psychophysische Dualismus, wird in neuerer Zeit seltener vertreten.
 
Theoretische Konzepte für die Neurobiologie
 
In den letzten Jahren ist es üblich geworden, Überlegungen zu den Problemen und Lösungswegen der Neurobiologie auch als Neurophilosophie zu bezeichnen. Es geht dabei weniger um philosophische Probleme, wie sie gerade behandelt wurden, sondern eher um grundsätzliche Erörterungen von Fragestellungen, Methoden und Zielen der Neurobiologie. Im Folgenden sollen einige ältere und neuere Konzepte der Neurobiologie vorgestellt werden.
 
Wahrnehmungen werden durch viele Sinnes- und Nervenzellen vermittelt. Wir nehmen aber keineswegs die Beiträge der vielen Zellen getrennt wahr. Der Himmel sieht nicht wie ein Mosaik von blauen und weißen Punkten aus. Was wir wahrnehmen ist offensichtlich ein Verarbeitungsprodukt, das nicht mehr viel darüber verrät, wie es aus vielen Einzelbeiträgen zusammengefügt wurde. Nicht das Wahrnehmungserlebnis, sondern erst die Forschung lehrt, dass es Sinnes- und Nervenzellen gibt, und was diese tun. Wie werden nun die Einzelbeiträge der Sinnes- und Nervenzellen zu den Wahrnehmungen von Gegenständen der Umgebung verknüpft? Fast alles, was in den folgenden Kapiteln aus der Neurobiologie berichtet wird, ist eine Teilantwort auf diese Frage. Die allgemeine Fragestellung ist interessant, weil es trotz reichlichen Detailwissens noch keine erschöpfende Gesamtantwort gibt. Nur so viel lässt sich sagen: Schon einzelne Nervenzellen können für komplexe Signale aus der Außenwelt spezialisiert sein; insofern können Nervenerregungen Wahrnehmungen ähnlich sein. Die Spezialisierung des Antwortverhaltens von Nervenzellen ist auf ihre Vernetzung zurückzuführen.
 
Komplexe Wahrnehmungen kann man nicht in einfache Merkmale oder Empfindungen zerlegen. Man kann nur raten, woran man ein Gesicht erkennt. Die Wahrnehmung ist plötzlich da und das Erkennen gelingt meistens ohne unser Zutun wie von alleine. Die Zerlegung des Gesichts in Merkmale oder Wahrnehmungsbausteine ist aber nicht möglich. Die gegenteilige Meinung, dies sei doch möglich, ist das atomistische Wahrnehmungskonzept. Es gründet auf der Vorstellung, dass Wahrnehmungen aus Elementen zusammengesetzt seien, wie Moleküle aus Atomen. Aber selbst wenn die Wahrnehmungselemente irgendwo im Nervensystem existieren, sind sie für uns nicht zugänglich. Das Scheitern des atomistischen Wahrnehmungskonzeptes ist nicht überraschend. Das Ganze ist immer mehr als die Summe der Teile. Das gilt für Wahrnehmungen wie für Moleküle. Durch die Kombination der Teile können bei Wahrnehmungen wie Molekülen ganz neuartige Eigenschaften geschaffen werden, die eben mehr sind als Anhäufungen von Elementen. Dieses Argument trugen Anfang des 20. Jahrhunderts die Vertreter der Gestaltpsychologie gegen das atomistische Wahrnehmungskonzept vor.
 
An diese einfache Erfahrung sollte man bei anspruchsvollen Wahrnehmungsaufgaben denken, wenn man den Stil eines Kunstwerks oder ein Krankheitsbild erkennen will oder wenn man eine Pflanze, ein Tier oder ein Mineral bestimmen soll. Der Erfahrene löst diese Aufgabe scheinbar mühelos. Der Anfänger versucht sich für die Aufgabe vorzubereiten, indem er die Merkmale auswendig lernt. Das kann aber nur eine Hilfe zur Einübung sein, weil sich komplizierte Wahrnehmungen nicht als Sammlungen von Merkmalen beschreiben lassen.
 
Nach einer einleuchtenden Vorstellung liegt jeder Wahrnehmung ein Erregungszustand im Nervensystem zugrunde. Man kann dabei an die Erregung einzelner oder vieler miteinander vernetzter Nervenzellen denken. Dieses kaum zu bezweifelnde, aber letztlich auch kaum beweisbare Konzept lädt bei jeder Wahrnehmung zu der Frage ein, worin die zugehörige empfindungsspezifische Erregung bestehen könnte. So kann durch die Schädigung bestimmer Zellen des Großhirnareals die Farbentüchtigkeit und bei anderen die Fähigkeit der visuellen Bewegungswahrnehmung verschwinden. Die Erforschung der neuronalen Ursachen der Wahrnehmungen, des Bewusstseins und aller anderen seelischen Tätigkeiten und Erlebnisse wird heute als die wichtigste Aufgabe der Neurobiologie angesehen. Die Ursache aber, wie man Hans, Grete und die Großmutter unterscheiden kann, ist noch Gegenstand der Spekulation. Die Vorstellung einer spezialisierten Nervenzelle für jede Wahrnehmung, also auch einer Großmutterzelle, ist ein extremes und schwer nachvollziehbares Konzept. Das andere Extrem ist die Vorstellung, dass viele Nervenzellen an dem Erregungszustand jeder Wahrnehmung beteiligt sind. Die beobachtete Synchronisierung der Aktivität weit auseinander liegender Nervenzellen im Gehirn ist nach Ansicht mancher Forscher ein Zeichen für die Zusammenarbeit der Nervenzellen bei einer Wahrnehmung oder einer anderen psychischen Tätigkeit. Die Erregungssynchronisierungen lassen sich aber auch anders, etwa als Regelungsschwingungen im Nervensystem erklären.
 
Manche Theorien über die Wahrnehmungsvorgänge ergeben sich direkt aus den Resultaten der Forschung. Wissenschaftler, die die Wahrnehmungsvorgänge in aufsteigender Richtung vom Sinnesreiz über die Nervenerregung zum Wahrnehmungserlebnis betrachten, untersuchen, auf welche Reize die Sinneszellen reagieren, was die nachgeschalteten Nervenzellen weitermelden, und was schließlich in die Wahrnehmungen eingeht. Bei diesem methodischen Vorgehen ist der Vergleich der Verarbeitungsabläufe mit denen eines Fahrkartenautomaten fast unvermeidbar. Dem Reiz entspricht das hineingesteckte Geld und der Wahrnehmung die Fahrkarte, die der Automat ausgibt. Wenn man sich daran erinnert, dass es Handschriften lesende Automaten gibt und Computerprogramme, die lernen können, wird man den Vergleich nicht von vornherein für unangemessen primitiv halten. Die Sinnesorgane und das Gehirn lassen sich auch als System von Informationsfiltern beschreiben. Tatsächlich fand man in Tierversuchen Nervenzellen, die nur auf arteigene Kommunikationslaute oder nur auf bekannte Gesichter oder bestimmte Früchte reagieren. Derartige hoch spezialisierte Nervenzellen sind anscheinend Informationsfilter für bestimmte Reizkombinationen. Ihre Erregung könnte die Voraussetzung für die zugehörigen Wahrnehmungen sein.
 
Die Betrachtung anderer Wahrnehmungsabläufe nötigen zu einer Interpretation der Vorgänge in der Gegenrichtung und führen zu einem anderen Wahrnehmungskonzept. Dafür ein Beispiel: Eine Frau erwacht in der Nacht. Sie glaubt, das Signal der Einbruchsanlage gehört zu haben, ist aber nicht sicher, ob sie das nur geträumt hat. An einer roten Signallampe erkennt sie, dass die Anlage eingeschaltet ist. Sie lauscht in der Dunkelheit. Die Katze könnte durch ein Fenster nach Hause gekommen und durch die Infrarot-Lichtschranke gelaufen sein. Der Luftzug, der den Vorhang bewegt, verrät aber, dass die Haustür geöffnet wurde.. .. Jeder kann den Faden dieser Geschichte weiterspinnen. Festzuhalten ist, dass es beim Erkennen des Diebes oder des Ehemannes entscheidend auf die Interpretationen ankommt. Dem Reizeingang werden Hypothesen über die richtige Interpretation entgegengestellt, gedanklich oder mit neuen Wahrnehmungen geprüft und verworfen. Das Wahrnehmen ist hier nicht ein passiver Vorgang wie im Automatenbeispiel, sondern eine aktive Leistung. Diese Betrachtung führt zum Hypothesenkonzept, das mit dem Filterkonzept nicht leicht zu vereinen ist, aber auch seine Berechtigung hat. Die Erforschung der Wahrnehmungsvorgänge wird erst richtig interessant, wenn man die Voraussetzungen und Grenzen der Forschungskonzepte im Auge behält. Mit einem einzigen Denkmodell, wie dem Informationsfilter- oder dem Hypothesenkonzept, wird man schwerlich auskommen.
 
Prof. Dr. Christoph von Campenhausen
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
neurobiologische Grundbegriffe
 
 
Campenhausen, Christoph von: Die Sinne des Menschen. Einführung in die Psychophysik der Wahrnehmung. Stuttgart u. a. 21993.
 Churchland, Patricia Smith: Neurophilosophy. Toward a unified science of the mind-brain. Neudruck Cambridge, Mass., 1996.
 Damasio, Antonio R.: Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 21997.
 Dennett, Daniel C.: Philosophie des menschlichen Bewußtseins. Aus dem Amerikanischen. Hamburg 1994.
 DuBois-Reymond, Emil: Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträtsel. Leipzig 1916. Nachdruck Berlin 1967.
 Eccles, John C.: Die Evolution des Gehirns - die Erschaffung des Selbst. Aus dem Englischen. München u. a. 31994.
 Guski, Rainer: Wahrnehmen. Ein Lehrbuch. Stuttgart u. a. 1996.
 
Physiologie der Sinne, Einführung von Hans-Peter Zenner u. a. Heidelberg u. a. 1994.
 
Das Ich und sein Gehirn, Beiträge von Karl Raimund Popper und John C. Eccles. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München u. a. 61997.
 Kebeck, Günther: Wahrnehmung. Weinheim u. a. 21997.
 
Sinne und Wahrnehmung. Wie wir unsere Welt begreifen, bearbeitet von Christiane Grefe u. a. Hamburg 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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